Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

Die Kraft der Bibel

 

„Ha, ha, ha", lachte der Mann und wischte sich den Schnurr­bart. „Lieber Herr Pfarrer, lassen Sie mich mit Ihrem Christen­tum in Ruhe. Der eine sagt so und der andere so, und am Ende weiß man gar nicht mehr, was man glauben soll. Und so habe ich mir meinen eigenen Glauben zurecht gemacht. Mein Glau­bensbekenntnis heißt: Zwei Pfund Rindfleisch gibt eine gute Suppe."

Ich verabschiedete mich. Es gibt einem einen Stich durchs Herz, wenn man als Pfarrer bei seinen Hausbesuchen auf so oberflächliche und doch entschlossene Abwehr trifft. Hier schien jedes weitere Gespräch überflüssig. Darum ging ich. —

Wer beschreibt mein grenzenloses Erstaunen, als ich ein Vier­teljahr später diesen Mann an einem Platz wieder traf, an dem ich ihn am wenigsten vermutet hätte. In einem kleinen Saal hatte ich jede Woche eine Bibelstunde. Und da saß er eines Abends in der vordersten Reihe und nickte mir freundlich zu. Nach der Bibelstunde kam er auf mich zu und sagte:

„Herr Pastor, ich habe eine Bitte."

„Wenn ich kann, will ich sie Ihnen gern erfüllen. Worin be­steht sie?"

„Ich habe eine Schwägerin. Die ist in irgendeiner Sekte. Und nun hat sie ganz kindliche Auffassungen von der Bibel. Dauernd verfolgt sie mich mit ihren Bibelsprüchen. Leider kann ich ihr aber gar nichts entgegnen, weil ich die Bibel nicht kenne. Das ist ja schließlich auch ein schweres Buch. Weil ich aber meine Schwägerin jetzt einmal richtig widerlegen will, möchte ich Sie bitten: Lehren Sie mich die Bibel lesen."

Ich lachte: „Kennen Sie das Abc?"

„Aber gewiß!"

Da zog ich mein Taschentestament heraus, gab es ihm und sagte: „Das will ich Ihnen schenken, wenn Sie mir versprechen, daß Sie es ganz durchlesen wollen."

Er versprach es, nahm das Testament und ging davon. —

Ein Vierteljahr lang hörte ich nichts mehr von ihm. Eines Tages erschien er wieder bei mir. „Nun", fragte ich ihn, „wie ist es Ihnen ergangen mit der Bibel?"

Er wurde sehr ernst. Langsam und nachdenklich erklärte er mir:

„Ganz eigentümlich ist es mir ergangen. Ich fing an zu lesen. Und da war vieles, das verstand ich nicht. Weil ich aber ver­sprochen hatte, das ganze Buch durchzulesen, machte ich weiter. Dann fand ich vieles, was mich schrecklich ärgerte. Es war, als wenn da einer auf mich sticheln wollte. Am liebsten hätte ich das Buch an die Wand geworfen. Aber weil ich es versprochen hatte, las ich weiter. Und dann fand ich vieles, was mich lang­weilte. Aber ich las weiter. Und sehr vieles — ja, das muß ich offen sagen — fand ich, das mich getröstet hat, wie mich noch nie etwas getröstet hat. Und als ich das Buch aus hatte, da mußte ich zu mir sagen: Wenn das wahr ist, was in diesem Buche steht — und es ist wahr —, dann bis du ein verlorener Mann, wenn du weiterlebst ohne Gott wie bisher. Und dann gab es in meinem Herzen einen heißen Kampf, bis ich die­sem Buche recht gab. Nun soll es die Grundlage meines Lebens werden."

Es sind seitdem viele Jahre vergangen. Der Mann hat sich bewährt als ein treuer Jünger des Herrn Jesus, den er in der Bibel gefunden hat.