Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

„Den Pfaffen und die Spatzen"

 

Erlebnis unter modernen Heiden

 

Endlos reiht sich Haus an Haus. Immer fünf Stockwerke hoch. In dem einen Stockwerk spielt das Grammophon krei­schend einen Schlager.

Im nächsten liegt ein sterbender Mann.

Im dritten spielt in großer Enge ein Rudel blasser Kinder.

Jedes Stockwerk hat seine Menschen, seine Schicksale, seine Freude und viel bitteres Leid.

Einen Nachmittag lang bin ich da hindurchgegangen, habe die Menschen besucht. Nun stehe ich ganz oben im vierten Stock vor einer engen Tür.

„Junge, Junge, was ist denn da los?" frage ich mich selbst. Hinter der Tür ist ein Krach, als wenn die Welt unterginge. Ein paar singen. Aber das Singen wird übertönt von Geschrei — jeder scheint da ein Redner zu sein —, von Lachen und vom Gekreisch der Weiberstimmen.

Ich gebe mir selber einen Rippenstoß: „Nur Mut, alter Junge!" Mein Anklopfen hört keiner. Da trete ich so ein — und sehe, was los ist: Ein großes Schnapsgelage mit allen sei­nen Folgen. Allerdings — so richtig betrunken scheint mir noch keiner. Sie sind nur alle sehr — fröhlich? Nein! Schnaps macht nicht fröhlich. Aber „angeheitert".

Als ich eintrete, verstummt der Lärm einen Augenblick. Fra­gende Gesichter richten sich auf mich.

Dann hat mich einer erkannt. „Der Pastor!" ruft er halb lachend, halb erschrocken.

„Der Pastor!" ruft ebenso die Runde. Und einer fährt her­aus: „Paßt auf, der will uns auf den Himmel vertrösten." — Alles lacht.

Und kreischend schreit ein Weib: „Herr Pfarrer, den Him­mel überlassen wir Ihnen und den Spatzen!"

Wildes Gelächter.

Mich packt der Grimm: „Es ist nicht wahr", schreie ich nun in den Lärm. „Ich denke nicht daran, euch auf den Himmel zu vertrösten!"

„Nanu", sagt einer erstaunt, „ich denke, dazu sind die Pfaf­fen da!" — Alles stimmt ihm zu.

„Wozu die Pfaffen da sind", fahre ich fort, „weiß ich nicht. Aber das weiß ich, daß ich euch nicht auf den Himmel vertrö­sten will. Ich denke ja gar nicht daran."

Ich wandte mich zu der Frau. „Sehen Sie, Sie wollen den Himmel mir und den Spatzen überlassen. Überlassen kann man einem anderen nur, was einem gehört. Doch der Himmel gehört Ihnen ja gar nicht."

„Ja, Mensch, was wollen Sie denn dann von uns?" schreit ein halb Angesäuselter.

„Was ich will?! Ich will euch nur sagen, daß keiner, aber auch keiner von euch da hinkommt. Ihr könnt da gar nicht hinein — so, wie ihr seid. Ihr braucht euch gar keine Mühe zu geben, dem Reiche Gottes zu entlaufen. Ihr seid schon draußen! Ihr seid schon verlorene Leute! In meiner Bibel steht: .Wisset ihr nicht, daß die Ungerechten werden das Reich Gottes nicht ererben? Lasset euch nicht verführen! Weder die Hurer noch die Abgöttischen noch die Ehebrecher noch die Weichlinge noch die Knabenschänder noch die Diebe noch die Geizigen noch die Trunkenbolde noch die Lästerer noch die Räuber werden das Reich Gottes ererben.'"

In dem Zimmer war es still geworden.

„Das haben wir nicht gewußt", murmelte einer.

„Das habe ich mir gleich gedacht", lachte ich ihn an. „Darum bin ich ja auch hierhergekommen. Und nun laßt mich einmal ein wenig hersitzen. Ich habe euch noch mehr zu sagen. Ich muß euch doch sagen, wie ihr gerettet werden könnt."

Und dann erzählte ich die Geschichte von dem verlorenen Sohn, der so verloren war, daß er schließlich bei den Schweinen landete. Ja, und dann machte er sich auf und ging zum Vater. Und der Vater? Was sagte der? Der lief ihm entgegen und küßte ihn.

Und ich erzählte ihnen, wie der für uns gekreuzigte Sohn Gottes die Arme ausbreitet gegen alle verlorenen Sünder: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben!"

Und ich erzählte ihnen, wie der Herr Jesus die Dirne aus dem Schmutz geholt und ihr alles vergeben hat. Wie er den Zachäus von seinen Geldsäcken befreit hat, wie er den Raub­mörder am Kreuz in letzter Stunde gerettet hat.

Und ich erzählte ihnen, daß „der Herr nahe ist allen, die ihn

anrufen; allen, die ihn mit Ernst anrufen". Dann ging ich. — —

Vielleicht fragt nun einer: „Haben sie den Ruf gehört?" Ach, das ist nicht die entscheidende Frage für dich, mein Leser! Frage dich lieber selbst: „Habe i c h ihn denn gehört und will i c h ihm folgen?"