Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

„Es war schön..."

 

Müde von einem reichen Sonntagsdienst sitze ich in meinem Sessel. Diese Sonntage im Jahre 1944 waren ja jedesmal ein wenig aufregend — namentlich für einen Pfarrer. Und nament­lich in Essen, wo wir Tag und Nacht nicht mehr aus den Alar­men herauskamen.

In der Nacht hatten die Sirenen zweimal geheult. Würden die müden Menschen nun zum Gottesdienst kommen? Ja, sie kamen. Sie füllten den Keller, der uns nach der Zerstörung aller Räume geblieben war, bis auf den letzten Platz.

Aber während des Gottesdienstes blieb die Sorge: Wird nicht neuer Alarm uns auseinandertreiben? Oder wird die Gestapo nicht irgendeinen Grund finden, die Versammlung aufzulösen?

Und dieselben Sorgen am Nachmittag in dem wackeren Jugendkreis, der es trotz der Bedrohung durch Bomben und Gestapo wagte, zusammenzukommen um das Wort Gottes.

Aber alles war wunderbar gut gegangen.

So sitze ich voll Dankbarkeit in meinem Sessel. Eben will ich ein Buch vornehmen, da fangen die Sirenen an. Voralarm! Nun, das ist noch nicht so sehr bedrohlich. Ich mache mich auf, um im Radio zu hören, was los ist. Da — auf einmal — ein wüstes, nervenzerreißendes Heulen — ein ohrenbetäubender Krach —: die erste Bombe!

Der Alarm kam zu spät. Zu spät für uns, um noch in den nahen Bunker zu laufen. Sekundenlang Türenschlagen — Ren­nen — Schreien —, dann findet sich die ganze Hausbewohner­schaft im Keller zusammen. O dieser Keller! Es ist uns allen klar, daß er keinen Schutz bietet, wenn nur eine dieser schwe­ren Bomben in der Nähe des Hauses krepiert.

Und nun bricht die Hölle los. Brandbomben zischen her­unter. Schwere Bomben heulen heran. Das Kellerlein schwankt wie ein Schiff im Sturm. Über uns Klirren. Da sind die neu eingesetzten Fenster wieder in die Brüche gegangen.

Ich schaue auf die Uhr: Erst fünf Minuten sind vorbei. Und solch ein Angriff dauert sicher fünfundvierzig Minuten. Es ist qualvoll! Die junge Frau, die oben im Haus wohnt, hat sich auf den Boden gekauert und wimmert nur.

„Kinder", sage ich, „wollen wir nicht ein Lied singen?" Und schon stimme ich an:

 

„Stark ist meines Jesu Hand,

Und Er wird mich ewig fassen;

Hat zu viel an mich gewandt,

Um mich wieder loszulassen ..."

 

Wie gut ist es, daß meine Kinder jede Woche ein geistliches Lied gelernt haben, das sie mir immer am Sonntagmorgen auf­sagten! Nun können wir das halbe Gesangbuch auswendig.

So singen wir ein Lied nach dem ändern:

 

Befiehl du deine Wege

Und was dein Herze kränkt

Der allertreusten Pflege

Des, der den Himmel lenkt ..."

 

Wir singen aus der Not und dem Entsetzen heraus. Wir singen uns alle Furcht vom Herzen. Wir singen unsre Glaubens­lieder dem drohenden Tod ins Gesicht hinein.

 

„Wenn sich die Sonn verhüllt,

(längst ist der elektrische Strom weg und Finsternis umhüllt uns)

Der Löwe um mich brüllt,   (und wie er brüllt!)

So weiß ich auch in finst'rer Nacht,

Daß Jesus mich bewacht."

 

Endlich ist der Angriff zu Ende. Wir stürzen hinauf. Überall Flammenschein! Unsere Wohnung ist ein Chaos. Und doch sind wir so froh, daß das Haus noch steht. Vor dem Hause liegt die Leiche eines Mannes, dem der Luftdruck das Gesicht wegriß, das nun unheimlich grinsend neben ihm liegt.

Wir schütteln den Kalk aus den Betten und bringen die Kin­der zu Bett. Und dann beuge ich mich über meine Jüngste, um ihr einen Gutenachtkuß zu geben. Da schlingt sie die Arme um mich und sagt aus tiefstem Herzen: „Papa, das war schön!"

Einen kurzen Moment bin ich fassungslos. „Schön?! Dies Ent­setzliche schön?!" Aber es ist wahr: Das Kind hat recht. Ja, es war schön, als wir so unsere Jesuslieder sangen — mitten im Rachen des Todes. Es war schön, denn wir hatten alle gemerkt, daß während dieses Singens der Herr Jesus Sein Wort wahr machte: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Na­men, da bin ich mitten unter ihnen." Ja, es war schön, als ein großer Friede über uns kam, so daß auch die wimmernde junge Frau still wurde.

„Es war schön!" Strahlend groß ging mir auf, daß es bei Jesus schön ist, auch wenn man in der Hölle säße. Ja, daß es schöner ist, mit Jesus in der Hölle zu sein als ohne Ihn im Paradies.