Müde von einem
reichen Sonntagsdienst sitze ich in meinem Sessel. Diese Sonntage im Jahre 1944
waren ja jedesmal ein wenig aufregend — namentlich für einen Pfarrer. Und
namentlich in Essen, wo wir Tag und Nacht nicht mehr aus den Alarmen
herauskamen.
In der Nacht hatten
die Sirenen zweimal geheult. Würden die müden Menschen nun zum Gottesdienst
kommen? Ja, sie kamen. Sie füllten den Keller, der uns nach der Zerstörung
aller Räume geblieben war, bis auf den letzten Platz.
Aber während des
Gottesdienstes blieb die Sorge: Wird nicht neuer Alarm uns auseinandertreiben?
Oder wird die Gestapo nicht irgendeinen Grund finden, die Versammlung
aufzulösen?
Und dieselben
Sorgen am Nachmittag in dem wackeren Jugendkreis, der es trotz der Bedrohung
durch Bomben und Gestapo wagte, zusammenzukommen um das Wort Gottes.
Aber alles war
wunderbar gut gegangen.
So sitze ich voll
Dankbarkeit in meinem Sessel. Eben will ich ein Buch vornehmen, da fangen die
Sirenen an. Voralarm! Nun, das ist noch nicht so sehr bedrohlich. Ich mache
mich auf, um im Radio zu hören, was los ist. Da — auf einmal — ein wüstes,
nervenzerreißendes Heulen — ein ohrenbetäubender Krach —: die erste Bombe!
Der Alarm kam zu
spät. Zu spät für uns, um noch in den nahen Bunker zu laufen. Sekundenlang
Türenschlagen — Rennen — Schreien —, dann findet sich die ganze Hausbewohnerschaft
im Keller zusammen. O dieser Keller! Es ist uns allen klar, daß er keinen
Schutz bietet, wenn nur eine dieser schweren Bomben in der Nähe des Hauses
krepiert.
Und nun bricht die
Hölle los. Brandbomben zischen herunter. Schwere Bomben heulen heran. Das
Kellerlein schwankt wie ein Schiff im Sturm. Über uns Klirren. Da sind die neu
eingesetzten Fenster wieder in die Brüche gegangen.
Ich schaue auf die
Uhr: Erst fünf Minuten sind vorbei. Und solch ein Angriff dauert sicher
fünfundvierzig Minuten. Es ist qualvoll! Die junge Frau, die oben im Haus
wohnt, hat sich auf den Boden gekauert und wimmert nur.
„Kinder", sage
ich, „wollen wir nicht ein Lied singen?" Und schon stimme ich an:
„Stark ist meines Jesu Hand,
Und Er wird mich ewig fassen;
Hat zu viel an mich gewandt,
Um mich wieder loszulassen ..."
Wie gut ist es, daß
meine Kinder jede Woche ein geistliches Lied gelernt haben, das sie mir immer
am Sonntagmorgen aufsagten! Nun können wir das halbe Gesangbuch auswendig.
So singen wir ein
Lied nach dem ändern:
Befiehl du deine Wege
Und was dein Herze kränkt
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt ..."
Wir singen aus der
Not und dem Entsetzen heraus. Wir singen uns alle Furcht vom Herzen. Wir singen
unsre Glaubenslieder dem drohenden Tod ins Gesicht hinein.
„Wenn sich die Sonn verhüllt,
(längst ist der
elektrische Strom weg und Finsternis umhüllt uns)
Der Löwe um mich brüllt, (und
wie er brüllt!)
So weiß ich auch in finst'rer Nacht,
Daß Jesus mich bewacht."
Endlich ist der
Angriff zu Ende. Wir stürzen hinauf. Überall Flammenschein! Unsere Wohnung ist
ein Chaos. Und doch sind wir so froh, daß das Haus noch steht. Vor dem Hause
liegt die Leiche eines Mannes, dem der Luftdruck das Gesicht wegriß, das nun
unheimlich grinsend neben ihm liegt.
Wir schütteln den
Kalk aus den Betten und bringen die Kinder zu Bett. Und dann beuge ich mich
über meine Jüngste, um ihr einen Gutenachtkuß zu geben. Da schlingt sie die
Arme um mich und sagt aus tiefstem Herzen: „Papa, das war schön!"
Einen kurzen Moment
bin ich fassungslos. „Schön?! Dies Entsetzliche schön?!" Aber es ist
wahr: Das Kind hat recht. Ja, es war schön, als wir so unsere Jesuslieder
sangen — mitten im Rachen des Todes. Es war schön, denn wir hatten alle
gemerkt, daß während dieses Singens der Herr Jesus Sein Wort wahr machte: „Wo
zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter
ihnen." Ja, es war schön, als ein großer Friede über uns kam, so daß auch
die wimmernde junge Frau still wurde.
„Es war
schön!" Strahlend groß ging mir auf, daß es bei Jesus schön ist, auch wenn
man in der Hölle säße. Ja, daß es schöner ist, mit Jesus in der Hölle zu sein
als ohne Ihn im Paradies.