Wilhelm Busch – Lasst euer unruhiges Gewissen ans Licht

 

1. Advent 1944

»Machet die Tore weit!« (Psalm 24, 7)

 

Als ich noch ein Junge war, fuhren wir jedes Jahr in den Ferien zu den Großeltern, die in einem riesigen alten Schulhaus auf der schwäbischen Alb wohnten. Wie schön war dann der erste Ferienmorgen! Ich rekelte mich noch im Bett, dachte an all das Schöne, das ich in diesen Ferien wieder erleben würde — und dann betrachtete ich mit In­brunst ein großes Bild, das mir gegenüber hing. Es stellte die Wiederkunft Jesu in Herrlichkeit dar. Vorn auf einem weißen Pferd der Herr, und hinter ihm das himmlische Heer. Da machte es mir Freude, die einzelnen Gestalten zu bestimmen. Der mit dem wehenden Bart und der ernsten Stirn musste Mose sein und jener mit dem Schwert Paulus. Den David konnte man gleich erkennen an der Königs­krone und der Harfe.

Durch den Mund dieses königlichen Sängers will der Herr heute morgen zu uns reden. Unser Text ist ein Psalmwort von ihm.

Der 24. Psalm nun ist etwas Besonderes. Da weissagt David, voll des Heiligen Geistes, von dem kommenden Heiland der Welt. So ist dieser Psalm ein rechtes Ad­ventslied : »Machet die Tore weit...«

 

1. Das ist der rechte Freudenschrei

Das merkt man erst recht, wenn man es wörtlich übersetzt. Da heißt es, fast unsinnig: »Erhebt eure Häupter, ihr Tore!«

Nach einem der letzten Fliegerangriffe waren wir ein paar Tage ohne Licht. Ich brauche euch nicht zu erklären, was das bedeutet. Eines Tages, als keiner mehr daran dachte, dass es besser würde, schrie auf einmal eines meiner Kinder: »Das Licht ist da!« Das gab ein Schalten, Schreien, Freuen. Die Kleinste tanzte herum, und ich schrie immer nur »Licht«. Das ist nur ein kleines Abbild von dem, was hier los ist. David weiß wohl um die entsetz­liche Finsternis der Welt und seines eigenen Herzens. Und nun sieht er im Geist das Kommen des Heilandes. »Erhebt eure Häupter ihr Menschen, macht die Tore weit auf!« Wir verstehen die Freude über das Kommen des Heilandes erst recht, wenn wir einen Blick werfen auf die Gesamtheit des 24. Psalms.

Der ist deshalb so seltsam, weil er immer einen Gedanken aufnimmt und plötzlich abbricht. Da spricht David zuerst von Gottes Herrlichkeit in der Natur. Er führt uns an das weite, brausende Meer. Das hat Gott gemacht! Aber dann bricht er plötzlich ab. Warum? David weiß: »Alle Herrlichkeit Gottes hilft mir nicht, wenn ich nicht Gottes Kind bin.« Und so geht der Psalm weiter: »Wer wird auf des Herrn Berg gehen?«, d.h.: »Wer darf bei ihm sein?« Und wie vom Himmel herab tönt es: »Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist.« Und da ist mir, als sehe ich David betroffen und er­schrocken stehen: »Unschuldige Hände!« Er sieht seine Hände an. Wie viel Schuld klebt an ihnen? Und »reinen Herzens« — oh Gott, wer kann das von sich sagen! Dann bin ich ausgeschlossen von Gottes Herzen. Die Sünde trennt ihn und mich auf ewig! Auf ewig? Da sieht David im Geist in die Zukunft. Er sieht den Sohn Davids aus der Herrlichkeit kommen, sieht ihn in der Krippe liegen, sieht ihn am Kreuz, sieht ihn, wie er die Sache unserer Schuld in die Hand nimmt und wie er der Heiland der Sünder wird, der den Weg eröffnet zum Berg Gottes. — Da bricht sein Mund in Jubel aus: »Oh ihr Tore, tut euch weit auf diesem kommenden Erlöser und Er­retter!« Und wer nur von ferne den verloren Zustand seines eigenen Herzens erkannt hat, jubelt mit: »Erhebt eure Häupter, ihr Tore!«

 

2. Das ist ein guter Rat

Ihr müsst bedenken, dass die Bibel ja nicht irgend ein litera­risches Erzeugnis ist, sondern dass »die Männer Gottes ge­redet haben, getrieben vom Heiligen Geist«. So erteilt hier der Heilige Geist durch den Mund Davids der Welt einen Rat: »Tut eure Tore weit auf für den Sohn Gottes!« Bis heute hat die Welt diesen Rat nicht befolgt. Sie ist nicht gut dabei gefahren! Wir wollen darum diesen Rat ernst nehmen. Von Toren ist die Rede. Da müsst ihr euch eine Stadt im Al­tertum vorstellen. Die war umgeben mit hohen Mauern. Ich war einmal mit einem Freund in Rothenburg/Tauber. Diese Stadt aus dem Mittelalter ist unversehrt erhalten. Da sieht man, wie die Stadt sich mit den Mauern abriegelte gegen die feindliche Welt, die außerhalb der Mauern war. So hat die Welt sich abgeriegelt, hat unsichtbare Mauern gezogen gegen den, der außerhalb steht, den sie für ihren Feind ansieht — gegen den lebendigen Gott. Nein, die Welt will Gott nicht. Sie sieht ihn als Feind an. Er sagt, wir seien Sünder. Das hält man für eine Beleidigung. Er gibt Gebote. Das will man nicht, man will seinen eigenen Willen. Er sagt, er sei der Helfer. Aber man will sich allein helfen. Und nun hat man so Schuld auf Schuld auf sich geladen, so dass man ihm erst recht nicht mehr traut. Er ist der Feind. Da schließt man die Tore zu. Und da spricht nun der Heilige Geist so freundlich, barmherzig und gnädig in Jesus zu uns: »Gebt doch euren sinn­losen Widerstand auf! Tut doch die Tore weit auf!« — Ach, dass wir es hörten! »Er kommt mit Willen, ist voller Lieb und Lust, all Angst und Not zu stillen, die ihm an euch bewusst!« — Schluss mit allem offenen und heimlichen Wi­derstand! Auf die Tore! Er ist nicht unser Feind! »Er kommt, dass wir leben und volles Genüge haben sollen (Johannes 10, 10).

Ich sah in Rothenburg ein altes Gemälde. Da war der Besuch eines Kaisers dargestellt. Oh, da standen alle Tore weit offen und waren bekränzt. So soll es sein, weil Gott in Jesus zu uns kommt. »Machet die Tore weit!«

 

3. Das ist eine Verheißung

Stellt euch noch einmal die ummauerte Stadt vor. Da spielen die Tore ja eine eigenartige Rolle. Sie waren gewis­sermaßen die wunden Punkte der Umfassung. Darum wurden sie durch Türme besonders befestigt. Und doch führte hier immer irgendwie ein Weg hinaus zum Feind. Hier war ein Weg, durch den der Feind hereinkam. Wenn der Heilige Geist von Toren redet, dann ist er der Meinung, dass der Mensch sich zwar gegen Gott abgegrenzt hat. Aber es sind in der Menschheit »Tore«, letzte Möglichkeiten zu Gott hin. Ich will euch so ein paar Tore nennen. Da ist das tiefe Heimweh nach Gott. Der Mensch mag die Mauern der Schuld und des Unglaubens gegen Gott noch so hoch ziehen, es bleibt bei dem Wort Augustins: »Unser Herz ist unruhig in uns, bis es ruht, Gott, in Dir.« »Machet die Tore weit!«, d.h.: »Gib diesem Heimweh nach, denn dein Heiland kommt dir in Liebe entgegen.« Da ist die Sehnsucht nach dem Frieden, die Furcht vor dem Tode. Da ist das verwundete Gewissen, das uns verklagt.

 

Seht, das sind alles Tore, die immer so eine letzte Ver­bindung zu Gott hin sind. Der Mensch weiß das und befe­stigt diese Gefahrenstellen, durch die Gott einbrechen könnte, besonders fest. Er vermauert sein Gewissen und hält es nieder. Er redet sich seine Sehnsucht nach Frieden aus. Er verlacht den Tod, um sich das Grauen wegzureden. Ach, lasst doch den Kampf! Macht die Tore weit! Lasst ruhig euer unruhiges Gewissen ans Licht! Gebt ruhig zu, dass euch vor dem Tode graut. Denn: »Siehe, dein Heiland kommt zu dir!« Dein Erlöser von Sünde, Schuld, Tod, Furcht. Er bringt dir Frieden und Freude.

 

»Machet die Tore weit!«