1. Advent 1944
»Machet die Tore weit!« (Psalm 24, 7)
Als ich noch ein
Junge war, fuhren wir jedes Jahr in den Ferien zu den Großeltern, die in einem
riesigen alten Schulhaus auf der schwäbischen Alb wohnten. Wie schön war dann
der erste Ferienmorgen! Ich rekelte mich noch im Bett, dachte an all das
Schöne, das ich in diesen Ferien wieder erleben würde — und dann betrachtete
ich mit Inbrunst ein großes Bild, das mir gegenüber hing. Es stellte die Wiederkunft
Jesu in Herrlichkeit dar. Vorn auf einem weißen Pferd der Herr, und hinter ihm
das himmlische Heer. Da machte es mir Freude, die einzelnen Gestalten zu
bestimmen. Der mit dem wehenden Bart und der ernsten Stirn musste Mose sein und
jener mit dem Schwert Paulus. Den David konnte man gleich erkennen an der
Königskrone und der Harfe.
Durch den Mund dieses königlichen Sängers will der Herr
heute morgen zu uns reden. Unser Text ist ein Psalmwort von ihm.
Der 24. Psalm nun ist etwas Besonderes. Da weissagt David,
voll des Heiligen Geistes, von dem kommenden Heiland der Welt. So ist dieser
Psalm ein rechtes Adventslied : »Machet die Tore weit...«
1. Das ist der rechte Freudenschrei
Das merkt man erst recht, wenn man es wörtlich übersetzt. Da
heißt es, fast unsinnig: »Erhebt eure Häupter, ihr Tore!«
Nach einem der letzten Fliegerangriffe waren wir ein paar Tage
ohne Licht. Ich brauche euch nicht zu erklären, was das bedeutet. Eines Tages,
als keiner mehr daran dachte, dass es besser würde, schrie auf einmal eines
meiner Kinder: »Das Licht ist da!« Das gab ein Schalten, Schreien, Freuen. Die
Kleinste tanzte herum, und ich schrie immer nur »Licht«. Das ist nur ein
kleines Abbild von dem, was hier los ist. David weiß wohl um die entsetzliche
Finsternis der Welt und seines eigenen Herzens. Und nun sieht er im Geist das
Kommen des Heilandes. »Erhebt eure Häupter ihr Menschen, macht die Tore weit
auf!« Wir verstehen die Freude über das Kommen des Heilandes erst recht, wenn
wir einen Blick werfen auf die Gesamtheit des 24. Psalms.
Der ist deshalb so seltsam, weil er immer einen Gedanken
aufnimmt und plötzlich abbricht. Da spricht David zuerst von Gottes
Herrlichkeit in der Natur. Er führt uns an das weite, brausende Meer. Das hat
Gott gemacht! Aber dann bricht er plötzlich ab. Warum? David weiß: »Alle
Herrlichkeit Gottes hilft mir nicht, wenn ich nicht Gottes Kind bin.« Und so
geht der Psalm weiter: »Wer wird auf des Herrn Berg gehen?«, d.h.: »Wer darf
bei ihm sein?« Und wie vom Himmel herab tönt es: »Wer unschuldige Hände hat und
reinen Herzens ist.« Und da ist mir, als sehe ich David betroffen und erschrocken
stehen: »Unschuldige Hände!« Er sieht seine Hände an. Wie viel Schuld klebt an
ihnen? Und »reinen Herzens« — oh Gott, wer kann das von sich sagen! Dann bin ich
ausgeschlossen von Gottes Herzen. Die Sünde trennt ihn und mich auf ewig! Auf
ewig? Da sieht David im Geist in die Zukunft. Er sieht den Sohn Davids aus der
Herrlichkeit kommen, sieht ihn in der Krippe liegen, sieht ihn am Kreuz, sieht
ihn, wie er die Sache unserer Schuld in die Hand nimmt und wie er der Heiland
der Sünder wird, der den Weg eröffnet zum Berg Gottes. — Da bricht sein Mund in
Jubel aus: »Oh ihr Tore, tut euch weit auf diesem kommenden Erlöser und Erretter!«
Und wer nur von ferne den verloren Zustand seines eigenen Herzens erkannt hat,
jubelt mit: »Erhebt eure Häupter, ihr Tore!«
2. Das ist ein guter Rat
Ihr müsst bedenken, dass die Bibel ja nicht irgend ein
literarisches Erzeugnis ist, sondern dass »die Männer Gottes geredet haben,
getrieben vom Heiligen Geist«. So erteilt hier der Heilige Geist durch den Mund
Davids der Welt einen Rat: »Tut eure Tore weit auf für den Sohn Gottes!« Bis
heute hat die Welt diesen Rat nicht befolgt. Sie ist nicht gut dabei gefahren!
Wir wollen darum diesen Rat ernst nehmen. Von Toren ist die Rede. Da müsst ihr
euch eine Stadt im Altertum vorstellen. Die war umgeben mit hohen Mauern. Ich
war einmal mit einem Freund in Rothenburg/Tauber. Diese Stadt aus dem
Mittelalter ist unversehrt erhalten. Da sieht man, wie die Stadt sich mit den
Mauern abriegelte gegen die feindliche Welt, die außerhalb der Mauern war. So
hat die Welt sich abgeriegelt, hat unsichtbare Mauern gezogen gegen den, der
außerhalb steht, den sie für ihren Feind ansieht — gegen den lebendigen Gott.
Nein, die Welt will Gott nicht. Sie sieht ihn als Feind an. Er sagt, wir seien
Sünder. Das hält man für eine Beleidigung. Er gibt Gebote. Das will man nicht,
man will seinen eigenen Willen. Er sagt, er sei der Helfer. Aber man will sich
allein helfen. Und nun hat man so Schuld auf Schuld auf sich geladen, so dass
man ihm erst recht nicht mehr traut. Er ist der Feind. Da schließt man die Tore
zu. Und da spricht nun der Heilige Geist so freundlich, barmherzig
und gnädig in Jesus zu uns: »Gebt doch euren sinnlosen Widerstand auf! Tut
doch die Tore weit auf!« — Ach, dass wir es hörten! »Er kommt mit Willen, ist
voller Lieb und Lust, all Angst und Not zu stillen, die ihm an euch bewusst!« —
Schluss mit allem offenen und heimlichen Widerstand! Auf die Tore! Er ist
nicht unser Feind! »Er kommt, dass wir leben und volles Genüge haben sollen
(Johannes 10, 10).
Ich sah in Rothenburg ein altes Gemälde. Da war der Besuch
eines Kaisers dargestellt. Oh, da standen alle Tore weit offen und waren
bekränzt. So soll es sein, weil Gott in Jesus zu uns kommt. »Machet die Tore
weit!«
3. Das ist eine Verheißung
Stellt euch noch einmal die ummauerte Stadt vor. Da spielen
die Tore ja eine eigenartige Rolle. Sie waren gewissermaßen die wunden Punkte
der Umfassung. Darum wurden sie durch Türme besonders befestigt. Und doch
führte hier immer irgendwie ein Weg hinaus zum Feind. Hier war ein Weg, durch
den der Feind hereinkam. Wenn der Heilige Geist von Toren redet, dann ist er
der Meinung, dass der Mensch sich zwar gegen Gott abgegrenzt hat. Aber es sind
in der Menschheit »Tore«, letzte Möglichkeiten zu Gott hin. Ich will euch so
ein paar Tore nennen. Da ist das tiefe Heimweh nach Gott. Der Mensch mag die
Mauern der Schuld und des Unglaubens gegen Gott noch so hoch ziehen, es bleibt
bei dem Wort Augustins: »Unser Herz ist unruhig in uns, bis es ruht, Gott, in
Dir.« »Machet die Tore weit!«, d.h.: »Gib diesem Heimweh nach, denn dein
Heiland kommt dir in Liebe entgegen.« Da ist die Sehnsucht nach dem Frieden,
die Furcht vor dem Tode. Da ist das verwundete Gewissen, das uns verklagt.
Seht, das sind alles Tore, die immer so eine letzte Verbindung
zu Gott hin sind. Der Mensch weiß das und befestigt diese Gefahrenstellen,
durch die Gott einbrechen könnte, besonders fest. Er vermauert sein Gewissen
und hält es nieder. Er redet sich seine Sehnsucht nach Frieden aus. Er verlacht
den Tod, um sich das Grauen wegzureden. Ach, lasst doch den Kampf! Macht die
Tore weit! Lasst ruhig euer unruhiges Gewissen ans Licht! Gebt ruhig zu, dass
euch vor dem Tode graut. Denn: »Siehe, dein Heiland kommt zu dir!« Dein Erlöser
von Sünde, Schuld, Tod, Furcht. Er bringt dir Frieden und Freude.
»Machet die Tore weit!«