Sexagesimae 1944
»Desgleichen auch die
Hohenpriester spotteten sein samt den Schriftgelehrten und Ältesten und
sprachen: 'Andern hat er geholfen'..« (Matthäus 27, 41-42)
Irgendwo las ich einmal die Geschichte von einem jungen
Künstler, der in großer Armut in Paris lebte. Eines Tages kam er an einer
Auktionshalle vorbei. Er trat ein und hörte der Versteigerung zu. Da wurde auf
einmal ein altes, verstaubtes und beschmutztes Kruzifix vorgezeigt. Sofort
ging ein wilder Spott los. Das tat dem jungen Mann weh, und er kaufte das alte
Ding für ein paar Pfennige. Aber als er nun zu Hause anfing, es vom Schmutz zu
reinigen, da stellte sich heraus, dass lauter Gold war. So ist es auch mit dem
Evangelium vom Gekreuzigten ergangen. Wie hat man es seit der Aufklärung vor
150 Jahren verspottet und verachtet! Aber über all dem hat sich nur
herausgestellt, dass echtes göttliches Gold ist. So hat das Evangelium selten
geleuchtet wie in unseren Tagen. Und so ging es auch mit Jesus. Da stehen seine
Feinde hasserfüllt unter dem Kreuz. Die wollen ihn verspotten. Aber über dem
kommt das Gold seiner Herrlichkeit zum Vorschein. Denn nun fällt den Feinden
gar nichts ein, was sie ihm vorwerfen könnten als dies: »Ändern hat er geholfen.«
Jesus im Urteil seiner Feinde.
1. Wie schön ist, was sie von ihm sagen
Diese Schriftgelehrten und Ältesten wollten die Hilflosigkeit
unseres Heilands verspotten. So schreien sie:
»Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen!«
Und da geben sie nun ungewollt ein Zeugnis für ihn ab, wie es schöner nicht
gedacht werden kann: »Ändern hat er geholfen!«
Wenn man eine Überschrift setzen müsste über die drei Jahre
der Tätigkeit des Herrn, so könnte man es gar nicht besser sagen, als die
Feinde des Herrn es tun: »Ändern hat er geholfen!«
Es ist, als kämen sie damit unter dem Kreuz einmal zu Wort:
Der Mensch, der 38 Jahre am Teich Bethesda krank gelegen hatte, und die
kananäische Frau, die so in Not war um ihre Tochter, und der Gichtbrüchige und
all die Aussätzigen. Und die blutflüssige Frau, »die all ihre Habe an die
Ärzte gewandt hatte«, und der Blindgeborene und der Knecht, dem der Petrus das
Ohr abgehauen hatte und ...und... Das könnte man lange fortsetzen. Wenn wir all
diese Elenden an unserem Geist vorbeiziehen lassen, dann geht uns auf, dass es
alles Leute waren, denen kein Mensch helfen konnte und die man darum gleichsam
mit ihrem Elend beiseite schob. Denn die Welt wird nicht gern an ihre
Hilflosigkeit und an ihr Elend erinnert. Die Welt will die Illusion aufrecht
erhalten, sie sei doch ganz nett und schön. Und darum rückt sie alles Elend
immer in den Winkel und an die Seite.
Aber der Heiland war das Licht und der Helfer gerade für die
Winkel geworden, für die Abseitigen und die Unverstandenen.
Darum bekommt unsere Zeit vielleicht ein neues Ohr für
Jesus, weil die Winkel sich so füllen, weil so viel Zerschlagene und Betrübte
und Elende da sind. Vor einiger Zeit besuchte ich eine Frau. Die hatte nie
etwas wissen wollen vom Evangelium. Ja, sogar die Pfarrer waren ihr so
verhasst, dass sie mich in der beleidigendsten Weise empfing. Ich wäre sofort
wieder gegangen, wenn ich nicht einen Brief in der Tasche gehabt hätte, in dem
mitgeteilt wurde, dass ihr Sohn gefallen ist. Das sagte ich ihr nun. Ach, was ging
da für ein Jammer an! Und da konnte ich ihr nur sagen: »Sie haben bisher keinen
Heiland gebraucht. Aber nun sind sie mit einem Schlage unter die 'Mühseligen
und Beladenen' geraten. Nun ist er der rechte Mann auch für sie.« Da hat sie
aufgehorcht.
Sie haben recht, die Feinde Jesu. »Ändern hat er geholfen.«
Und wollt ihr mir nicht glauben, so glaubt doch seinen Feinden.
2. Wie verkehrt sie es sagen
Von den Feinden Jesu heißt es im zweiten Psalm: »Der im
Himmel sitzt, lacht ihrer«. Und wir lachen auch ihrer. Denn sie wollen ihn
verspotten und müssen ihm doch ein herrliches Zeugnis ausstellen.
Und dennoch kann man von den Feinden Jesu nichts Gründliches
über Jesus erfahren. Weder damals noch heute. Denn der »natürliche Mensch
vernimmt nichts vom Geist Gottes«.
So ist auch das ungewollte Zeugnis der Feinde Jesu nur die
halbe Wahrheit. Wisst ihr, was daran verkehrt ist? Es ist falsch, dass sie die
Vergangenheitsform wählen. Sie sagen: »Andern hat er geholfen.« Als wenn das
nun zu Ende wäre. Es muss aber heißen: »Andern hilft er«. Ja, gerade als er am
Kreuz hing, musste gesagt werden: »Nun hilft er anderen!«
Seine größte Tat für andere ist nicht dies, dass er da und
dort einem Elenden half. Nein! Seine größte Tat ist, dass er für andere starb.
Seine größte Tat für andere ist das Kreuz. Ja, darauf kommt nun alles an, dass
man das Kreuz richtig
sieht. Die Feinde Jesu sehen darin nur das Ende, darum reden
sie von seiner Tätigkeit in der Vergangenheitsform. Der Glaube aber sieht im
Kreuz den Höhepunkt von Jesu Taten.
Da hat er auch mir geholfen. Ich will es an einem Bild klarmachen.
Im Jahre 1917 eroberten die Bolschewisten den Admiralspalast
in Petersburg. Am nächsten Morgen wurden alle im Hof aufgestellt, die man
gefangen hatte. Und dann hieß es: »Jeder zehnte wird erschossen! Abzählen!« Ein
junger Mann bekam die Zahl 20. Er wurde leichenblass. Aber in dem Augenblick
fühlte er sich leise am Ärmel gepackt und auf die Seite geschoben. Ein anderer
tauschte mit ihm den Platz. Es war der alte Oberpriester der Admiralskathedrale.
Und der starb dann für ihn. Nicht wahr, dem war geholfen. Genauso hat mir auch
Jesus geholfen. Als mir die Schwere meiner Sünden und mein verlorener Zustand
vor Gott aufgingen, da erkannte ich mit Staunen, dass Jesus an meinen Platz
getreten war und das Gericht getragen hatte. »Die Strafe liegt auf ihm, auf
dass wir Frieden hätten. Und durch seine Wunden sind wir geheilt.« (Jesaja 53,
5)
So stellen wir
uns im Glauben neben die Feinde unter Jesu Kreuz. Und wenn sie schreien:
»Ändern hat er geholfen!« dann rufen wir: »Nein! Jetzt, gerade jetzt, schafft
er durch sein Sterben die größte Hilfe allen Sündern!«
3. Wie traurig ist, was sie sagen
»Andern hat er geholfen«, rufen sie, und fahren fort: »...
und kann sich selbst nicht helfen!« Sie könnten aber auch weitermachen: »Uns
aber hat er nicht geholfen, weil wir seine Hilfe nicht wollten.«
Wie unendlich traurig ist dies: Ȁndern hat er geholfen,
nicht uns.« Als sie das so höhnend unter dem Kreuz riefen, da hob vielleicht
der Schacher sein sterbendes Haupt. Über seine blassen Züge ging ein Leuchten.
Und seine Lippen murmelten: »Nein! Nicht anderen! Mir! Mir hat er geholfen!
Mir!«
Da stand ein junger Mann, der spätere Apostel Johannes. Der
sah dankbar auf seinen Heiland, und sein Herz dachte: »Nein! Nicht anderen! Mir
hast du geholfen, damit mein Leben einen Halt und ein Ziel bekam. Mir hast du
geholfen! Mir!«
Das ist das Traurigste, was ich mir denken kann, wenn man an
anderen sieht, wie herrlich Jesus hilft und selbst hat man nichts davon. Wenn
man sieht, wie andere die Vergebung der Sünden rühmen, und selbst bleibt man
beladen. Wenn man an anderen den Frieden mit Gott findet, und selbst ist man
friedlos.
Und wenn du hoch von Jesu rühmtest und sagtest: »Ändern hat
er geholfen!«, so ständest du immer noch bei den Feinden Jesu. Die wussten das
auch. Erst wer bezeugen kann: »Mir hat er geholfen«, ist eingegangen in die
Tore der Freude, des Friedens, des Reiches Gottes.