Wilhelm Busch

Rahab

 

„Aber die Stadt Jericho verbrannten sie mit Feuer und alles, was darin war... Rahab aber, die Hure, samt dem Hause ihres Vaters und alles, was sie hatte, ließ Josua leben."

Josua 6, 24 und 25a

 

Vor vielen Jahren hatte ich einmal ein komisches Erlebnis: Da geriet ich bei meinen Besuchen in eine Wohnung, wo ein netter junger Mann mich begrüßte. Wir kamen ins Gespräch, und ich freute mich an seinen verständigen Ansichten. Schließlich lud ich ihn in unsre Bibelstunde ein. Da sagte er höflich: „Ich danke Ihnen. Ich werde es der Oma bestellen."

Er war ernsthaft überzeugt: Das Evangelium ist eine Sache für alte Leute, die sonst nichts mehr vom Leben haben. Leider steht er mit dieser seiner Ansicht nicht allein. Es ist einfach unerträglich, wie den meisten das Evangelium eine harmlose und uninteressante Sache geworden ist. dass wir es doch begreifen möch­ten: Das Evangelium ist eine gewaltige Errettungsbotschaft. Wer es verachtet oder verwirft, tut es auf eigene Gefahr. Die Gefahr heißt: Zorn Gottes!

Das Evangelium ist die Botschaft der Errettung vom Zorne Gottes. Davon spricht auch diese alttestamentliche Geschichte. Wir über­schreiben sie:

 

 

Das Haus der Errettung

 

1. Die verlorene Stadt

Da war also die Stadt Jericho, eine der Hauptstädte der kanaanitischen Kulturwelt.

Durch diese Stadt schritten eines Tages zwei Kundschafter des alttestamentlichen Gottesvolkes. Was sahen diese Männer? Ungefähr dasselbe, was man heute erblickt, wenn man einmal die Augen auf­macht: Eine reiche Welt, üppige Geschäftsstraßen, rauschende Feste. Sie fanden ferner eine starke Militärmacht vor, trotzige Offiziere und modernste Waffen. Weiter fiel ihr Blick auf herrliche Tempel und einen reichhaltigen religiösen Kultbetrieb.

Aber diese beiden Kundschafter waren Leute, denen Gott die Augen geöffnet hatte, dass sie tiefer sahen. Und so merkten sie: Hier ist eine Welt ohne Gott.

Eine Welt ohne Gott — das ist unheimlich. Und so entdeckten diese Männer auch die unheimlichen Züge im Gesicht Jerichos — wie sie jeder bei uns finden kann: Sie sahen neben dem Reichtum die grauenvollste Sklaverei. Es erschütterte sie, wie die Selbstsucht triumphierte, wie die Besitzenden kaltherzig an der Not vorüber­gingen. Sie sahen zerrüttete Ehen, Jugend ohne Halt, Religion ohne Glauben.

Und auf einmal entdeckten die Kundschafter: Das ist nicht eine Stadt nur ohne Gott. Das ist vielmehr eine Stadt, auf die sich die dunkle Wolke des Zornes Gottes herabsenkt. Eine gerichtsreife Stadt! So be­richten sie: „Gott hat sie dahingegeben." Und es geht ihnen auf, dass die Menschen das ahnen. Sie finden überall eine dunkle Angst. Das verlorene Jericho ist ein Bild der Welt unter dem Zorn Gottes. Diese Welt geht Gerichtskatastrophen entgegen, deren Schatten ja schon über uns liegen. Aber mehr noch! Wir alle gehen auf das letzte große Endgericht Gottes zu.

Hast du schon einmal den Zorn Gottes gefürchtet? Natürlich ist dir schon angst davor geworden. Aber vielleicht hast du das abgeschüt­telt, wie die Leute in Jericho das Grauen zu vertreiben suchten. Das aber ist sehr töricht.

In 4. Mose 15, 30-31 sagt Gott: „Wenn eine Seele bewusst sündigt, die hat den Herrn geschmäht. Solche Seele soll ausgerottet werden... denn sie hat des Herrn Wort verachtet und sein Gebot fahren lassen. Ja, sie soll ausgerottet werden; die Schuld bleibe auf ihr." Wer von uns hat noch nicht bewusst Gottes Gebote verletzt? Und da wagen wir zu tun, als seien nicht die Wolken Seines Zornes über uns? Ach, wir wissen das ganz genau. Und darum ist das Kennzeichen unsrer Zeit die geheime Angst und Flucht davor.

Jericho war eine verlorene Stadt. Und wir leben in einer verlorenen Welt.

 

2. Das Haus der Errettung

Eines Tages stand Josua (das ist die hebräische Form des Namens Jesus), der Vollstrecker des göttlichen Gerichts, vor Jericho. Schwei­gend umzogen seine Heerscharen die Stadt. Ich denke, dass die Leute von Jericho lachend das Grauen abzuschütteln versuchten. Aber es war Eis in ihrem Lachen. Sie ahnten: „Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten!"

Dann kam das Ende. Gott selbst stürzte die Mauern um, Jericho ging unter in Flammen. Wer aber in diesem Chaos die Augen offen hielt, sah etwas Selt­sames : Eine einzige Mauerzacke blieb stehen. Und auf diesem Mauer­rest klebte ein kleines Haus. Geradezu unwahrscheinlich war es, wie dies auf die Mauer gebaute Haus bewahrt blieb. An dem Hause hing ein rotes Seil. Wenn die mit dem Schwert würgenden Rächer der Ehre Gottes dies rote Seil sahen, gingen sie vorüber, und das Haus blieb im Frieden.

Dies Haus des Friedens und der Bewahrung ist ein herrlicher Hin­weis, eine Verheißung auf das Kreuz Jesu, des Sohnes Gottes. Wenn die Gerichte Gottes beginnen, wenn die Welt vergeht und die Hölle ihre Pforten öffnet, um die Verächter aufzunehmen, dann wird offenbar: Es gibt nur einen einzigen sicheren Platz, einen Ort der Be­wahrung: das Kreuz.

Ein rotes Seil hing an jenem Haus als Erkennungszeichen. Ein alter Ausleger hat gesagt: „Dem Teufel zum Trotz muss die rote Farbe dabei sein. Denn sie redet von dem Blute Christi, das für uns ver­gossen wurde."

Aber nun muss ich euch kurz berichten, warum dies eine Haus in Jericho bewahrt blieb. Kehren wir zurück zum Anfang der Geschichte: Als die Kundschafter Josuas Jericho durchstreiften, wurden sie ent­deckt und verfolgt. Sie flüchteten in ein öffentliches Haus. Das ge­hörte einem sehr schlechten Weibe, der Hure Rahab. Und nun ge­schah etwas Gewaltiges. Dies Weib legte ein Bekenntnis ab. Der In­halt und der Sinn ihrer Rede war etwa folgender: „Wir haben übel getan. Und darum sind die kommenden Gerichte eures Gottes Jehova gerecht. Ich möchte mich auch zu eurem gesegneten Volke Gottes schlagen. Denn alle Seine Worte sind Wahrheit."

Und dann hat Rahab die Kundschafter versteckt und sie schließlich an dem roten Seil über die Mauer der Stadt hinabgelassen. Ehe die Boten aber schieden, rieten sie der Rahab: „Lass das rote Seil als Erkennungszeichen im Fenster hängen! Dies soll ein Haus der Erret­tung sein. Und versammle alle deine Freunde und Verwandten zu dir, dass auch sie bewahrt bleiben!"

Rahab glaubte, ergriff die Rettung und wurde erhalten im Gericht.

So wird es auch am Jüngsten Tage sein. Es werden nicht die Mächti­gen errettet, nicht die Weisen, nicht die, welche sich selbst für gut halten, sondern nur die, welche Gott die Ehre geben und sich im Hause der Errettung aufhalten, nämlich unter Jesu Kreuz. Es ist doch zum Aufhorchen: Eine der größten Sünderinnen, die Hure Rahab, wurde errettet. Jesu Kreuz errettet Sünder, Verlorene, die von Gott nichts zu hoffen hatten.

 

3. Eine Einladung an uns

Ich sehe im Geist, wie die Rahab vor dem Untergang Jerichos durch die Straßen eilte und in ihr Haus einlud. Was wird sie dabei erlebt haben?

Die einen antworteten: „Ich will mir's überlegen." Und sie überleg­ten, bis es zu spät war. Die ändern sagten: „Die Rahab ist über­spannt. Wir sind doch auch religiös." Und sie kamen im Gericht um. Manche aber wurden nachdenklich und gingen mit der Rahab. Die wurden errettet.

So wie die Rahab damals in ihr Haus der Errettung einlud, so möchte ich euch zum Kreuz rufen. „Lasst euch erretten von diesem verkehr­ten Geschlecht", hat einst am ersten Pfingsttag der Petrus gesagt (Apostelgeschichte 2, 40). Seitdem geht der Ruf zum Kreuz durch die Welt. Ob wir ihn wohl hören und ihm folgen?